Über das Literarische Bautagebuch
Eine Einführung von Franziska Ploetz
Das Gerhart Hauptmann Haus auf Hiddensee wird generalsaniert, – ein hundertjähriges denkmalgeschütztes Haus auf einer sandigen, autofreien Ostseeinsel, das als Sommerfrische von einem der berühmtesten deutschsprachigen Dramatiker in den 1920er/1930er Jahren genutzt und dann in seiner originalen Ausstattung über Jahrzehnte hinweg bis heute als Literaturmuseum geführt wurde – es ist ein großes Vorhaben. Bei Bauprozessen ist es üblich, ein Bautagebuch zu führen und dies wollen wir hier unternehmen, auch weil die Arbeit an einem denkmalgeschützen Haus viele Fragen aufwirft, denn Denkmalpflege ist ein Aushandlungsprozess.
Wir möchten diese außergewöhnliche Phase nicht als notwendiges Übel, das es zu überstehen gilt, zurückblicken, sondern sie als eigenständigen Teil der Geschichte wahrnehmen, – als eine Art Pause im Lebenszyklus dieses Sommerhauses, ein kurzer Schlaf, in dem Erfahrungen vergangener Jahrzehnte ins Bewusstsein rücken, historische Einordnung erfahren und verarbeitet werden können – seien sie eingeschrieben in die Materialität des Objektes selbst oder in die Beziehungen zu den Menschen, die in ihm arbeiten.
Und wir möchten über das Wissen und die Kenntnisse derer reden, die an der Sanierung beteiligt sind, auf der Baustelle oder am Schreibtisch, durch die Bereitstellung von Fördermitteln oder durch die Bereitstellung von historischen Akten, durch Expertise in der Planung eines Museumskomplexes oder Expertise beim Unterfangen eines mit aller Raffinesse der Materialeinsparung nach dem 1. Weltkrieg gebauten Sommerhauses. Das in diesem Prozess zusammengetragene Wissen soll erfahrbar sein, nicht zuletzt als Anregung für Andere, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen.
Doch zuerst sei das Gerhart Hauptmann Haus auf Hiddensee als Protagonist vorgestellt:
In den frühen 1920er Jahren baute ein Berliner Glaswarenfabrikant eines der ersten Sommerhäuser auf Hiddensee. Noch stand es allein auf weiter Flur und den Einwohner der Insel gefiel es überhaupt nicht. Es sei „ein Kasten, der unschön in die Lüfte rage“, befand die Gemeindevertretung und erteilte die Auflage, das Dach abzuwalmen und zwei Veranden vorzusetzen, damit die Erscheinung ein wenig lieblicher werde. In dieser Form lernte es Gerhart Hauptmann 1925 als Mieter kennen, der seit den 1890er Jahren Stammgast auf der Insel war, aber bis zu diesem Zeitpunkt kein eigenes Haus auf Hiddensee besaß. Er gab dem Sommerhaus den Namen „Haus Seedorn“ und kaufte es 1929 für sich und seine Frau. Gerhart Hauptmann war zu dieser Zeit eine der bekanntesten Persönlichkeiten Deutschlands, seine Theaterstücke wurden an allen Bühnen gespielt und spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises 1912 war er auch international berühmt.
Das neu erworbene Sommerhaus war allerdings für Gerhart Hauptmanns Belange zu klein, denn der Dramatiker war in den Sommerwochen auf Hiddensee nicht untätig. So wie der Tagesablauf den vor- und nachmittäglichen Arbeitsphasen unterworfen war, musste sein Domizil den entsprechenden räumlichen Bedürfnissen angepasst sein. Und so wurde „Haus Seedorn“ um einen Westflügel erweitert, der ein geräumiges Arbeitszimmer und eine großzügige Terrasse umfasste. Gerhart Hauptmann selbst fertigte die Skizze an, nach welcher der Anbau entstehen sollte, die professionelle Planung übernahm der Dresdner Architekt Arnulf Schelcher. So bekam das Haus seine heutige Gestalt. Gerhart und Margarete Hauptmann bewohnten es für jeweils mehrere Sommermonate bis 1943 und ein Großteil von Hauptmanns Alterswerk entstand in seinen Räumen. 1946 starb Gerhart Hauptmann und wurde im vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten und von den Alliierten besetzten Deutschland mit großer staatspolitischer Geste in der Sowjetischen Besatzungszone auf Hiddensee beerdigt.
Zehn Jahre später, die Teilung Deutschlands war mittlerweile vollzogen, eröffnete man Gerhart Hauptmanns Sommerhaus als Museum, „Gedächtnisstätte“ hieß es zu diesem Zeitpunkt. Über Jahrzehnte hinweg wurde es gepflegt, saniert und bewahrt – auch vor ideologischen Vereinnahmungsversuchen übergeordneter Stellen. Ab den 1980er Jahren fanden im Arbeitszimmer Hauptmanns Lesungen und Konzerte statt mit kurzen Residenzen für die Autorinnen und Autoren, Musikerinnen und Musiker. Dann kam das Jahr 1990 und mit ihm die Frage, ob und wie es gelingen würde, das ehemalige Sommerhaus Gerhart Hauptmanns weiterhin als in situ-Nachlass, Zeugnis der Künstlerinsel Hiddensee und lebendiger Veranstaltungsort der Öffentlichkeit zugänglich zu halten. Schließlich überführte ein Teil der Familie Hauptmann ihren Anteil am Sommerhaus in eine Stiftung und mit Unterstützung des Bundes konnten von dieser auch die anderen Teile erworben werden.
So ist die Sommerfrische Gerhart Hauptmanns bis heute ein öffentlicher Raum, der sich aus zweierlei Quellen speist: der kreativen Fürsorge derer, die in ihm arbeiten und der Neugier und dem Interesse derer, die ihn besuchen.
Wir danken allen, die mit ihrem Wissen und Engagement das Literarische Bautagebuch und damit diesen außergewöhnlichen Ort bereichern und helfen, ihn für die Zukunft zu erhalten. Insbesondere:
Prof. Dr. Sigrid Brandt, Musikwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin und Denkmalpflegerin, Paris-Lodron-Universität Salzburg
Catalin Dorian Florescu, Schriftsteller und Psychologe
Prof. Dr. Holle Greil, Humanbiologin, Zeitzeugin
Jakob Hein, Schriftsteller
Sebastian Kleinschmidt, Herausgeber und Essayist
Daniela Krien, Schriftstellerin
Svenja Leiber, Schriftstellerin
Jana Leistner, Direktorin des Heimatmuseum Hiddensee
Dagmar Leupold, Schriftstellerin
Gert Loschütz, Schriftsteller
Günter Matheisen, ehemaliger Mitarbeiter des Gerhart Hauptmann Haus
Reiner Nagel, Architekt und Stadtplaner, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur
Andreas Platthaus, Schriftsteller und Journalist
Dr. Christoph Rauhut, Landeskonservator Landesdenkmalamt Berlin
Antje Rávic Strubel, Schriftstellerin
Prof. Dr. Luise Rellensmann, Architekturkrikerin und Wissenschaftlerin, Bauen im Bestand, Denkmalpflege und Bauaufnahme, Hochschule München
Philipp Ther, Sozial- und Kulturhistoriker, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien
Wolf Dieter Thormeier, Restaurator
Carolin Vogel, Projektleiterin Hermann Reemtsma Stiftung
Andreas Woitassek, Architekt und Geschäftsführer der gmw planungsgesellschaft mbH
Ihre Franziska Ploetz
Geschäftsführerin der Gerhart-Hauptmann-Stiftung in Kloster auf Hiddensee.
Trailer: Franziska Ploetz, Direktorin des Gerhart Hauptmann Haus Hiddensee; Andreas Woitassek, sanierender Architekt von gmw planungsgesellschaft mbH; Günter Matheisen, ehemaliger Mitarbeiter des Gerhart Hauptmann Haus Hiddensee; Andreas Platthaus, Gastautor im Gerhart Hauptmann Haus Hiddensee
Produktion Sound: funkhaus ost
Redaktion: Panatom